NEUE ZURCHER ZEITUNG vom 13.06.97

Poet und Hacker in einem Die sanfte Subversion des «Netzaktivisten» Heath Bunting Er machte die Idee des Internet-Cafés in Europa bekannt - ohne je eines eröffnet zu haben. Er lebt ohne Domizil und hat doch immer ein Dach über dem Kopf. Das wandelnde Paradoxon Heath Bunting, bis anhin Geheimtip in der Internet-Kunstszene, ist von Catherine David und Simon Lamunière an die Documenta X eingeladen worden. Die Arbeit des Londoner Künstlers Heath Bunting ist auf der Homepage der Documenta X1 unter dem Thema «Städte und Netzwerke» zu finden, was auf Grund des Titels seiner Arbeit - «A Visitor's Guide to London» - auch einleuchtend ist. Wer aber erwartet, dass Buntings Werk Orientierungshilfe für unkundige Touristen bietet, muss sich eines Besseren belehren lassen: Bunting pflegt Erwartungen nicht zu erfüllen, sondern zu unterlaufen, oder im Computerjargon: zu hacken. Wer durch «A Visitor's Guide to London» surft, trifft durchaus auf Photographien von Londoner Örtlichkeiten. Wegen der sehr groben Rasterung verlieren aber die Bilder an Informationsgehalt, während sie an Poesie gewinnen. Was dabei als Führung etikettiert wird, erweist sich in Wahrheit als Entführung in eine karge, schemenhafte Schwarzweisswelt, die durch eingeschobene Textdateien wie «» oder «» nicht eben gastfreundlicher wird. Bunting, der aus einem Arbeiterviertel im Norden Londons stammt, lockt in seinem Führer in eine Stadt der Wolkenkratzer, der verstopften Seitenstrassen, der verlassenen U-Bahn-Schächte - und der Abfallmulden. Denn Bunting, der seinen ersten Computer mit 14 Jahren aus Restteilen zusammenbaute, kennt die Londoner Hinterhöfe nicht nur von seinen Streifzügen als Graffiti- Künstler wie seine Westentasche. Er hat sie auch regelmässig besucht, um aus den Abfallmulden von High-Tech-Firmen alles zu fischen, was ein vernetzter Mensch so braucht: Modems, Prozessoren, ganze Faxgeräte. Daraus ist eines seiner vielen Projekte entstanden: der «Corporate Skip Raider's Manual», der alle lukrativen Mulden Londons auflistet. Erfinder des Internet-Cafés Seit über einem Jahr lebt Bunting ohne festes Domizil, schon viel länger ohne feste Arbeit. Wer Bunting erreichen will, verschickt eine Mail, wer ihn besuchen will, der surft zu seiner Homepage.2 Und wer den unbefriedigenden Versuch machen will, ihn zu charakterisieren, der versucht es mit «Netzaktivist». Trotzdem ist das Netz nicht Buntings eigentliches Thema; schon eher die menschliche Kommunikation, die durch die digitale Vernetzung zustande kommt. Das lässt sich bereits an seinem ersten grösseren Projekt, der 1992 eröffneten Mailbox «Cybercafé», erkennen. Gewöhnlich dienten Mailboxen als digitale Umschlagplätze für Dateien und Software, aber Bunting schuf einen sozialen Treffpunkt für Technik-, Medien- und Kunstinteressierte. In seiner Mailbox wurden vor allem Texte getauscht. Überdies wollte Bunting parallel zum digitalen Treffpunkt einen realen schaffen, an dem man auch einen Kaffee trinken konnte, daher der Name «Cybercafé». Dies kam aus finanziellen Gründen nicht zustande, aber andere griffen die Idee des «Cybercafés» auf, als das World Wide Web populär wurde; zunächst in London, später schossen in ganz Europa die Internet-Cafés wie Pilze aus dem Boden. Berüchtigt wurde Bunting im Sommer 1994, als er in einer spektakulären Aktion 20 öffentliche Telefonapparate der zentralen Londoner Bahnstation Kings Cross usurpierte. Bunting hatte die Telefonnummern den Mitgliedern seiner Mailbox mit der Bitte bekanntgegeben, an einem bestimmten Tag, wenn möglich zur Rush-hour, anzurufen. Um sechs Uhr abends verwandelte sich die zentrale Schleuse der Londoner Geschäftswelt in einen magischen Treffpunkt: von Anrufern aus aller Welt, von Eingeweihten, die sich zu diesem Zeitpunkt einfanden, und von Passanten, die sich der ständig klingelnden Apparate erbarmten. Das Spektakel am Rande der Legalität, bei dem ein öffentlicher Raum gleichsam «gehackt» worden war, machte Bunting zum Liebling der Presse. In den folgenden Jahren etablierte sich Bunting in London allmählich als Künstler. Im September 1996 wurde er vom Arts Council, der englischen Institution für Kunstförderung, für die Mitarbeit an einer Internet-Konferenz erstmals finanziell unterstützt. Vom japanischen Telekommunikationsgiganten NTT wurde er nach Japan eingeladen und reichlich mit Geld ausgestattet. NTT gab ihm völlig freie Hand: Er solle Web-Kunst machen, lautete der Auftrag. Als erstes verteilte Bunting die unzähligen Visitenkarten, die man ihm zur Begrüssung überreicht hatte, an irgendwelche Passanten in Tokio - auch Visitenkarten haben schliesslich etwas mit Vernetzung zu tun. Oft überwiegt das spielerische Moment in Buntings Internet-Aktionen: so in dem fingierten Wettbewerb, den Bunting zusammen mit der befreundeten Internet-Künstlerin Rachel Baker im Dezember 1996 im Netz ausschrieb. Als erster Preis lockte ironischerweise eine «Silicon Graphics Reality Engine», eine Rechenmaschine, mit der 3D-Welten simuliert werden. Ein gutes Hundert Surferinnen und Surfer gaben arglos ihre Personalien und Interessen bekannt. Bunting und Baker erklärten sich endlich ohne Skrupel zu den glücklichen Gewinnern und veröffentlichten im Netz als Fazit ihrer «Studie»: Wettbewerbe seien ein ausgezeichnetes Mittel, an Adressen und persönliche Angaben zu kommen. Andere Projekte Buntings sind weniger harmlos, so das noch in Planung begriffene Projekt «World Wide Watch». Bunting will stündlich erneuerte Photos von zentralen Plätzen in London, Dublin und Tokio auf seiner Homepage publizieren und die Surfer auffordern, allfällige Beobachtungen von Vergehen den zuständigen Polizeistationen per Fax mitzuteilen. Das Formular ist vorbereitet, ein einfacher Mausklick von irgendwo auf diesem Globus genügt, und die Faxgeräte in den Polizeistationen beginnen zu rattern. Als Terrorist des Netzes tituliert In der Londoner Presse hat man Bunting auch schon einen «Terroristen des Netzes» genannt; er selber spricht lieber von «gentle subversion». Simon Lamunière, Kurator an der Genfer Stiftung Saint-Gervais, der Bunting nach Kassel eingeladen hat, bezeichnet ihn als «Kulturaktivisten» und vergleicht ihn mit Beuys; auch dieser habe immer versucht, die Grenzen der Kunst auszuweiten und mit dem Alltag zu verschränken. In der Netzkunst ist diese Grenze von vornherein aufgeweicht. Denn viele der Netzkünstler sind zugleich Programmierer, die sich ihren Lebensunterhalt selber verdienen können und daher auf den traditionellen Kunstbetrieb nicht angewiesen sind. Noch nicht, meint allerdings Lamunière, denn in den kommenden Jahren werde man mit Web-Programmierung nicht mehr leicht Geld verdienen können. Durch die Einladung nach Kassel dürfte Heath Bunting den Einstieg in den Kunstbetrieb aber geschafft haben - falls er sich nicht noch daranmacht, den eigenen Erfolg zu hacken. Anzeichen dazu gibt es: Vor wenigen Tagen erreichte den Freundeskreis die Nachricht, dass seine bisherige E-Mail-Identität nicht mehr gelte. Und in der neuen, die sich jeden Monat ändern soll, werde sein Name nicht mehr vorkommen. Villö Huszai 1 http://www.documenta.de 2 http://www.irational.org